Mann steht in einem modernen Bau auf der Treppe und schaut runter Mann steht in einem modernen Bau auf der Treppe und schaut runter Mann steht in einem modernen Bau auf der Treppe und schaut runter

Netto-Null-Schweiz - Jetzt erst recht

Publiziert
November 2022
Themen
Fokus 02/2022 Gastbeitrag

Seit dem Ukraine-Krieg ist es klarer denn je: Wenn wir unsere Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen überwinden wollen, dürfen wir keine Zeit mehr verschwenden. Die Schweiz hat in der Vergangenheit bewiesen, dass sie Energiekrisen als Chance für echte Veränderungen nutzen kann.

 

Seit einem halben Jahr ist das Thema Energie in aller Munde. Mehr denn je realisiert die Bevölkerung, dass die Energie nicht einfach endlos aus der Steckdose oder aus der Zapfsäule kommt. Die steigenden Energiepreise und die drohende Strommangellage führten in den vergangenen Monaten dazu, dass sich sowohl die Politik als auch die Öffentlichkeit und die Wirtschaft intensiver mit dem Thema Energie beschäftigen als je zuvor.

Das grosse Ziel stand jedoch schon vor dem Ukraine-Krieg fest: Bis 2050 will der Bundesrat eine klimaneutrale Schweiz. Ich bin überzeugt, dass diese Netto-Null-Schweiz erreichbar ist. Doch dafür braucht es grosse Anstrengungen in allen Bereichen. Einer der wichtigsten Punkte ist, dass wir von den fossilen Energieträgern wegkommen. Nur wenn wir künftig auf Erdöl und Erdgas verzichten, werden wir ein klimaneutrales Energiesystem erreichen. Nun stellt sich die Frage, wie wir dieses Ziel erreichen können. Wie wollen wir unsere Energie- und Stromversorgung in Zukunft organisieren – und wo müssen wir dafür zuerst ansetzen?

Ein Schwerpunkt betrifft den Individualverkehr. Die Energieversorgung in dieser Sparte basiert derzeit noch zu über 90 Prozent auf Erdölprodukten. Obwohl die Autos heute viel effizienter unterwegs sind, verbrauchen sie noch immer Unmengen an Benzin. Die Gründe sind bekannt: Die Fahrzeuge werden immer grösser, die Leute fahren mehr. Wenn wir den Verkehr tatsächlich dekarbonisieren wollen, braucht es radikale Veränderungen. Die gute Nachricht: Mit der Elektromobilität existiert bereits eine Lösung, die funktioniert und umsetzbar ist – und die sich einer breiten Akzeptanz erfreut. Trotzdem ist dieser Weg mit Herausforderungen verbunden. So muss zum Beispiel die Ladeinfrastruktur noch massiv ausgebaut werden. Ein weiteres Thema betrifft das Batterierecycling. Gerade in diesem Bereich sehe ich jedoch grosse Chancen für die Schweiz. Recycling hat bei uns eine grosse Tradition – warum sollen wir also nicht auch in diesem Bereich eine Vorreiterrolle übernehmen können?

Portraitaufnahme eines Mannes

Christian Schaffner ist seit September 2013 der Executive Director des Energy Science Centers (ESC) der ETH  Zürich. Das ESC ist ein interdisziplinäres Kompetenzzentrum für die Förderung der Energieforschung und -lehre an der ETH. Es zielt darauf ab, ein umweltschonendes, zuverlässiges, risikoarmes, wirtschaftlich tragbares und sozial verträgliches Energiesystem zu entwickeln. Schaffner erhielt seinen Titel als Elektroingenieur und als Doktor der technischen Wissenschaften von der ETH Zürich in den Jahren 1998 und 2004.

Der positive Effekt der Erdölkrise

Wer glaubt, die Schweiz sei doch viel zu klein, um eine Pionierrolle zu übernehmen, der irrt. Es gibt zahlreiche Beispiele aus der Vergangenheit, die zeigen, dass wir einen globalen Impact haben können. So war und ist die Schweiz zum Beispiel im Bereich Kehrichtverbrennung weltweit führend. Ein weiteres Beispiel ist die Erdölkrise, die in den 1970er-Jahren die ganze Welt traf. Infolge dieser Krise hat die Schweiz innert kürzester Zeit massiv strengere Gebäudevorschriften definiert. Das zeigt sich auch heute noch: Alle Gebäude, die nach dieser Zeit gebaut wurden, sind viel besser isoliert und energieeffizienter als vor der Erdölkrise. Auch die ganze Wärmepumpentechnologie wurde in dieser Zeit entwickelt. Erfolgsgeschichten wie diese sind der Beweis dafür, dass wir auch als kleines Land technologisch einen Impact haben können.

 

Die Folgen der Elektrifizierung

Die Mehrheit der Bevölkerung steht hinter dem Ziel, in Zukunft eine Netto-Null-Gesellschaft zu erreichen. Was aber passiert, wenn wir den Verkehr sowie die Wärme- und Kälteversorgung in unseren Häusern elektrifizieren? Nun, ganz einfach: Einerseits brauchen wir dann weniger Energie, andererseits aber dafür mehr Strom. Und das nicht zu knapp. Der zusätzliche Strombedarf beläuft sich je nach Prognose auf 20 bis 40 Prozent. Um diesen Bedarf zu decken, werden grosse Investitionen nötig. Doch auch hier gibt es eine positive Nachricht: Die Schweiz verfügt über das technologische und wirtschaftliche Potenzial, um auch diese Herausforderungen zu meistern. Dieses Potenzial liegt insbesondere in der Fotovoltaik, im Wind und – hoffentlich – auch in der Geothermie. Es liegt an uns, diese Potenziale zu fördern und zu nutzen. Und klar ist: Je mehr Strom wir selber produzieren, desto besser ist unsere Position im europäischen Markt.

 

Einer für alle, alle für einen

Trotz allem sollten und dürfen wir nicht vergessen, dass wir auch in Zukunft Teil des europäischen Stromnetzes sein werden. Die Versorgungssicherheit hängt heute und auch in Zukunft zu grossen Teilen mit unserer Anbindung an die umliegenden Länder zusammen. Umgekehrt ist es übrigens genauso. Wenn heute irgendwo in Europa ein Kernkraftwerk aussteigt, werden innerhalb von Sekunden europaweit die grossen Kraftwerke ein Stück hochgefahren, um den Verlust zu kompensieren. Wir sind integriert in das europäische System – darum funktioniert es auch so zuverlässig. Und genau deshalb sollten wir zu unseren Beziehungen zu unseren europäischen Nachbarn Sorge tragen. Leider entwickeln wir uns im Moment eher in die andere Richtung. Fest steht: An Herausforderungen wird es uns in Zukunft nicht mangeln. Und wie sagte doch einst Winston Churchill: «Lass niemals eine Krise ungenutzt verstreichen.» Ich sehe es genauso. Trotz allen schwierigen Umständen haben wir jetzt die grosse Chance, die Weichen für die Zukunft zu stellen. Packen wir es an!

(Dieser Artikel ist in der Ausgabe 02/2022 unseres KMU-Magazins FOKUS erschienen. Das Magazin erscheint zweimal jährlich und richtet sich speziell an Gewerbetreibende sowie Firmen und vereint aktuelle Themen, Firmenportraits, Erfolgsgeschichten oder auch Serviceleistungen.)

Grösstes Potenzial beim Verkehr
Der Verkehrssektor weist das grösste Potenzial auf, um die Nachfrage nach fossilen Energieträgern zu senken. Er ist mit einem Anteil von 36 Prozent (inklusive  internationalem Luft- und Schiffsverkehr) einer der grössten Verursacher der Treibhausgasemissionen in der Schweiz. Mit 92,5 Prozent Erdölprodukten spielen erneuerbare Energieträger in diesem Bereich zudem noch eine verschwindend kleine Rolle.