Die Antriebswende allein führt nicht zur Verkehrswende
Verstopfte Pendlerstrecken, überfüllte Züge, kilometerlange Staus zum Ferienstart: Der Verkehrsdruck in der Schweiz wird immer grösser. Verkehrssoziologe Timo Ohnmacht erklärt, wie sich die Mobilität in den vergangenen Jahren verändert hat – und welche Massnahmen tatsächlich zu einer Veränderung führen könnten.
Wie hat sich die Einstellung der Gesellschaft zur Mobilität in den vergangenen Jahren verändert?
Aus soziologischer Sicht gibt es nicht die Gesellschaft. Nur schon der Unterschied zwischen Stadt und Land ist bezüglich der Verkehrssozialisierung gross. Klar ist aber: Das Umweltbewusstsein ist heute in vielen Gesellschaftsschichten verbreiteter als noch vor zehn Jahren. Die menschengemachten Veränderungen in Natur und Umwelt werden stärker wahrgenommen.
Trotzdem sind die Strassen im ganzen Land überlastet.
Nur weil das Bewusstsein in der Bevölkerung gestiegen ist, heisst das nicht, dass sich auch unser Verhalten verändert hat. Unsere Absichten, um Ressourcen einzusparen, stimmen nicht mit unserem Verhalten überein. Das Verkehrssystem und das Verkehrsverhalten sind beharrlich, doch die Dringlichkeit für Veränderung steigt. Dies liegt nicht zuletzt auch daran, dass die Wohnbevölkerung der Schweiz nach wie vor wächst.
Was brauchen wir, damit aus den guten Absichten auch Taten werden?
Das funktioniert nur über ein Bündel von Massnahmen. Zunächst einmal braucht es attraktive und flächendeckende Alternativen zum motorisierten Individualverkehr – diese existieren in Form des gut ausgebauten öffentlichen Verkehrs. Entscheidend ist auch der politische Wille zur Veränderung. In der Stadt Luzern zum Beispiel soll die Zahl der öffentlichen Parkplätze in den kommenden zwanzig Jahren halbiert werden. Es braucht somit beides: Den gesetzlichen Rahmen in Form von Regulierungen wie auch den Willen der Bevölkerung. Jeder und jede von uns kann einen Beitrag leisten, indem wir zum Beispiel auf kürzeren Strecken den motorisierten Individualverkehr durch alternative Mobilitätsformen ersetzen.
«Nur weil das Bewusstsein in der Bevölkerung gestiegen ist, heisst das nicht, dass sich auch unser Verhalten verändert hat.» Dr. phil. Timo Ohnmacht Institut für Tourismus und Mobilität ITM, HSLU
Gemäss einer TCS-Umfrage kann sich die Hälfte der Menschen in der Schweiz vorstellen, in den nächsten drei Jahren ein Elektroauto zu kaufen. Was schliessen Sie aus diesem Ergebnis?
Egal, ob Elektroautos oder autonome Fahrzeuge, am Ende des Tages sind auch das immer noch Autos: Sie brauchen zu viel Platz in der Stadt, sie stehen im Stau, sie führen zu Unfällen. Allein die Antriebswende – also der Umstieg von fossilen Treibstoffen hin zu einer klimaneutralen Mobilität – führt nicht zur Verkehrswende.
Gerade in ländlichen Gebieten geniesst das eigene Auto immer noch einen hohen Stellenwert: Welche mobilitätspolitischen Herausforderungen stellen sich im Kanton Schwyz?
Das Auto ist gut geeignet für den ländlichen Raum, solange es nicht in die Stadt will. In ländlichen Regionen, von denen es im Kanton Schwyz viele gibt, ist die Mobilität in der Tat mit besonderen Herausforderungen verbunden. Ich sehe aber auch Chancen: So ist zum Beispiel die Erschliessung touristischer Attraktionen im ländlichen Raum mit dem öffentlichen Verkehr auch für die Wohnbevölkerung von Nutzen. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Linie von Schwyz ins Muotathal, die im Dreissig-Minuten-Takt verkehrt.
Wenn wir schon über den öffentlichen Verkehr sprechen: Welche Rolle spielt dieser in der Mobilität von morgen?
Der öffentliche Verkehr in der Schweiz hat bereits ein sehr hohes Niveau. Das Problem: Während die Züge zu den Stosszeiten aus allen Nähten platzen, sind sie den Rest des Tages oft halb leer. Hier bräuchte es Veränderungen in der Arbeitswelt: weg von der klassischen Nine-to-five-Gesellschaft, hin zu einer flexibleren Wirtschaft.
Wie können langfristige Verhaltensveränderungen in Bezug auf Mobilität gefördert und erreicht werden?
Was es braucht, ist der Wille zu einem wesensgerechten Einsatz von Verkehrsmitteln. Es geht nicht darum, das Auto zu verbieten – dieses hat gerade auf langen Strecken durchaus seine Vorteile. Wichtig scheint mir jedoch, dass in den urbanen Zentren sinnvolle Regulationen geschaffen werden.
Wie zum Beispiel?
In der Fachwelt wird zum Beispiel neu darüber diskutiert, ob ein Einfahrtsverbot grosser Personenwagen in die Innenstadt einen Teil zur Lösung beitragen könnte. Klar ist: Unsere Städte wachsen weiter, die Zehn-Millionen-Schweiz bis 2040 wird kommen. Das Verkehrssystem in der Schweiz ist jedoch gebaut, die Kapazitäten sind begrenzt. Wenn wir uns in Zukunft gleich verhalten wie im Moment, dann werden Staus in den Zentren zum Dauerzustand.
Wir könnten auch einfach noch mehr Strassen und Autobahnspuren bauen.
Unbegrenztes Wachstum auf begrenztem Raum ist nicht realisierbar. Mehr Kapazitäten führen einzig dazu, dass noch mehr Leute auf noch grösserem Fuss unterwegs sind. Wir sollten den Ausbau des Verkehrssystems somit nicht als alleiniges Mittel ansehen, um der steigenden Nachfrage Herr zu werden.
(Dieser Artikel ist in der Ausgabe 02/2023 unseres KMU-Magazins FOKUS erschienen. Das Magazin erscheint zweimal jährlich und richtet sich speziell an Gewerbetreibende sowie Firmen und vereint aktuelle Themen, Firmenportraits, Erfolgsgeschichten oder auch Serviceleistungen.)