Autos und Züge füllen
Um die Verkehrsengpässe zu beseitigen, braucht es breitere Strassen, mehr Schienen, Busspuren und Velowege. Das ist der erste, natürliche Impuls, wenn das System an seine Grenzen kommt. Nur der Ausbau von Infrastruktur greife aber zu kurz, findet Thomas Küchler, CEO der Schweizerischen Südostbahn AG.
Seit Jahren bauen wir in der Schweiz das Strassen- und Schienennetz aus – doch trotzdem kommt die Verkehrsinfrastruktur in unserem Land Tag für Tag an ihre Grenzen. Wenn Ausbauen keine Besserung verspricht, was sollen wir dann tun? Das Grundsatzproblem, mit dem wir uns effektiv beschäftigen müssen, ist die Auslastung. Wir wissen: Die Auslastung von Zügen, Bussen und Autos liegt heute bei rund dreissig Prozent. Siebzig Prozent der Zugplätze – aber auch der verfügbaren Autositze – bleiben im Durchschnitt ungenutzt. Das ist enorm viel, oder? Bevor wir uns überhaupt mit weiteren Infrastrukturprojekten beschäftigen, sollten wir uns deshalb viel eher zum Ziel setzen, die aktuellen Auslastungen deutlich zu erhöhen.
Es ist zentral, dass wir dabei nicht in Sektoren oder in guten und bösen Verkehrsmitteln denken, sondern die Problematik übergreifend angehen. Ich spreche deshalb auch lieber von kollektiven Verkehrsmitteln anstelle von öffentlichem Verkehr. Im Prinzip müssen wir mit den vorhandenen Transportmitteln einfach mehr Menschen bewegen. Jedes Auto, in dem mehr als zwei Personen (im Schnitt sind es 1.3) sitzen, ist ein Erfolg. Kollektive Verkehrsmittel wie der Bus oder der Zug haben natürlich noch deutlich mehr Potenzial.
Systemwelten verknüpfen
Wir testen zusammen mit unseren Partnern derzeit in ganz unterschiedlichen Projekten, wie wir die verschiedenen Systemwelten miteinander verknüpfen können. Sie alle zahlen auf das übergeordnete Ziel ein, die Auslastung zu erhöhen. Lassen Sie mich dazu zwei Beispiele nennen.
Im Kanton St. Gallen haben wir mit einem grossen Arbeitgeber aus der Industrie, der an seinem Hauptsitz 2500 Mitarbeitende beschäftigt, eine Analyse durchgeführt. Dabei haben wir festgestellt, dass das ÖV-Angebot für die Mehrheit der Angestellten zu wenig attraktiv war, um es regelmässig zu nutzen. Nun könnte man einfach mehr Busse in die Industriezone fahren lassen, die wiederum meist schlecht ausgelastet wären. Doch das ist bekanntlich wenig zielführend. Was wir hingegen angeregt haben, ist ein Shuttlebus zwischen Bahnhof und Arbeitsort zu den Schichtwechseln. Das wäre eine einfache Massnahme, die das Problem der betroffenen Mitarbeitenden direkt löst.
Die Firma prüft zurzeit, ob sie diesen Shuttle – zusammen mit einem Mobilitätsguthaben für die Mitarbeitenden – einführen möchte. Bezahlen könnte sie das neue Angebot durch die Einführung kostenpflichtiger Parkplätze. Die Mitarbeitenden könnten das Guthaben entweder wie bisher für ihren Parkplatz einsetzen oder aber in ein attraktives ÖV-Abo investieren, von dem sie auch in ihrer Freizeit profitieren.
An diesem Projekt hat sich übrigens auch der Kanton St. Gallen beteiligt, wo die grössten zehn Arbeitgeber für sieben bis acht Prozent des gesamten Verkehrsaufkommens verantwortlich zeichnen. Selbst wenn nur ein Drittel davon umsteigt, könnte die öffentliche Hand dadurch teure Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur vermeiden.
Thomas Küchler ist langjähriger CEO der Schweizerischen Südostbahn AG (SOB). In dieser Funktion hat er einen digitalen Marktplatz mitentwickelt, der beliebte Freizeitaktivitäten direkt mit den Haltestellen verknüpft und den Gästen so sofort zeigt, wie sie ihre Ziele optimal erreichen. Der Schwyzer präsidiert zudem die Genossenschaft openmobility. Sie unterstützt den Aufbau eines offenen Ökosystems für die Schweiz, um eine nachhaltige Mobilität zu etablieren. Das Ziel der Genossenschaft ist es, die bestehenden Transportmittel geschickt zu vernetzen und so das bestehende Potenzial zu nutzen.
Alpenraum erschliessen
Das zweite Beispiel, das ich hier aufzeigen möchte, führt uns in die Urner Alpen. Andermatt Swiss Alps hat die Region in den letzten Jahren touristisch aufgewertet und spürbar verändert. Nun stellt sich die Frage, wie sich die Feriengäste aus den Resorts, aber auch die in den umliegenden Dörfern wohnhaften Mitarbeitenden bewegen. Die Region beherbergt enge Täler, und es ist schwierig, die dezentrale Destination sinnvoll zu erschliessen. Uns schwebt deshalb in Ergänzung zum ÖV-Angebot ein Rufsystem mit Elektroautos vor, ohne dabei die Kapazitäten unnötig zu erhöhen. Ergänzt wird das Angebot durch öffentlich verfügbare E-Bikes. Das Projekt ist interessant für den gesamten Alpenraum. Dass das System funktionieren kann, zeigt beispielsweise das Emmental, wo einer unserer Partner bereits sehr erfolgreich unterwegs ist.
Die Beispiele zeigen: Solche Modelle revolutionieren nicht von heute auf morgen das ganze Verkehrssystem. Vielmehr dienen sie als lokale Experimente, die das Potenzial aufzeigen und kreativen Ideen Raum geben sollen. Wir fordern die Verkehrsteilnehmenden dabei mit professioneller Unterstützung auch immer wieder heraus, weil wir im direkten Dialog mit ihnen herausfinden möchten, was ihre Entscheidungen zur Verkehrsmittelwahl beeinflusst. Wenn eine Methode Einzelne überzeugt, können wir sie für die Allgemeinheit weiterentwickeln, ähnlich wie der Schneeball, der die Lawine ins Rollen bringt.
Scheitern ist Teil des Prozesses
In Bezug auf die Auslastung unserer Transportmittel stehen wir noch ganz am Anfang. Ich finde es deshalb von unschätzbarem Wert, dass wir nach dem Trial-and-Error-Prinzip viele Ansätze ausprobieren, verwerfen und weitermachen. Scheitern gehört zum Lernprozess dazu. Dieser wird dafür hoffentlich zu Lösungen führen, die nachhaltig wirken.